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Griechische Tragödien wie Sophokles' "König Ödipus" sind lange im Lichte eines modernen, auf individuelle Verantwortlichkeit reduzierten Verständnisses von Schuld interpretiert worden. Erst die philosophische Reflexion grundlegender Begrifflichkeiten eröffnet den Blick auf die kultische Metaphorik der Befleckung (miasma) im rituellen Untergrund der Tragödie und den wesenhaft ekstatischen Ursprungsbezug von Mythologie überhaupt.
Indem tragische Schuld solcherart über die engen Grenzen subjektiver Zurechenbarkeit hinaus gedeutet wird, erschließt sie auch eine neue Perspektive auf das Verhältnis des Stücks zu drängenden Fragen unserer Zeit: als Auseinandersetzung mit Hybris und Fehlbarkeit des Menschen im Schatten eines missverstandenen Ideals grenzenloser Machbarkeit.
Ingo Werner Gerhartz, Jahrgang 1979, studierte in Mainz Philosophie und Griechische Philologie. Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter am Arbeitsbereich für praktische Philosophie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.