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Annie Ernaux. Das ist für mich ein Synonym für literarische Relevanz.
Ich bin so dankbar, dass wir in den grandiosen Übersetzungen von Sonja Finck immer mehr von dieser brillanten Autorin lesen dürfen.
Bisher war ich in Fragen der Reihenfolge eher dogmatisch: Ernaux wird so gelesen, wie Finck sie übersetzt.
„Die Jahre“ zeigen das Gesamtbild. „Erinnerung eines Mädchens“ seziert unterm Mikroskop in einem ganzen Buch, was in „Die Jahre“ auf wenigen Zeilen wie nebenbei erwähnt wird. (Natürlich erwähnt Annie Ernaux niemals etwas nebenbei!)
In „Der Platz“ beleuchtet sie die Perspektive zum Vater.
„Eine Frau“ wirft ein Schlaglicht auf die Mutter. Doch immer ist Ernaux ihr eigenes Zentrum.
Jedes Buch von ihr verdichtet meinen Eindruck des vorherigen, lässt Verbindungen entstehen.
Das Ernauxversum gewährt mir mit jedem Buch ein tieferes Verstehen seiner Beschaffenheit. Und zeigt mir genau, wo ich Teil davon bin, wo es Teil von mir ist - und von den Frauen um mich herum.
Nun ist „Die Scham“ erschienen und ich gerate mit meiner Überzeugung der Reihenfolge zum ersten Mal ins Wanken.
Vielleicht ist das eine Finck-Übersetzung, die sich auch als Einstieg in das Werk von Annie Ernaux eignet? In diesem Buch, das sie bereits Mitte der 90er schrieb, findet sie erstmals Worte für eine Begebenheit aus dem Jahr 1952: Am Küchentisch eskaliert ein elterlicher Streit und der Vater droht, die Mutter zu erschlagen.
Für Ernaux beginnt in diesem Jahr eine Zeit „ ... in der ich mich ununterbrochen schämen würde.“ Hier geht es im Zuge des Erwachsenwerdens der damals zwölfjährigen Annie D. vor allem um Religion und Milieu.
Die Ausgangsszene am Küchentisch bleibt der entscheidende Zündungsmoment, aber Ernaux geht gewohnt soziologisch weiter voran, arbeitet sich tiefer vor in die Entstehung ihrer Scham, die zwischen Privatschule und Katholizismus Nahrung fand.
Ernaux betrachtet sich und die damaligen Umstände völlig unaufgeregt, gewohnt ruhig und analytisch, und beeindruckt mich mal wieder tief in ihrer Ehrlichkeit und in ihrer Unbedingtheit: Es ist für sie ganz klar, dass sie diese Begebenheit in der literarischen Form erzählen, genaue Worte für sie finden muss, weil sonst diese Küchentischszene als ewig Heiliges, Unbenennbares und damit enorm Machtvolles in ihr bleibt. Als Stimmung, als Szene vor allem aber als ein Auslöser für ein Gefühl, das für so viele Frauen so viele verschiedene Anfänge hat.
Und das ist der Einstieg in den Dialog, den ich nach jedem Ernaux-Buch mit mir selbst führe: Hier beginnt das Erinnern, die Selbstermächtigung über eigene Gefühle und eigene Episoden, die Auseinandersetzung mit meiner Vergangenheit, das Michwichtignehmen, auch rückwirkend und auch in vermeintlichen Lapalien, das in protestantischen Haushalten ebenso als eher unerwünschtes Umsichselbstkreisen verpönt war. Das zu initiieren und zwar mit Sätzen und Bildern, die universell sind und hochliterarisch, das ist für mich bei jedem Buch von Annie Ernaux eine Offenbarung.
Ich kann „Die Scham“ nicht lesen, ohne die vier vorherigen Bücher mitzudenken und ich kann es nicht lesen, ohne mich auf weitere Ernaux-Übersetzungen von Sonja Finck zu freuen.
Aber falls Ihr, wie auch immer das möglich sein kann, noch nichts von Annie Ernaux gelesen habt, gibt es jetzt einen Grund mehr. Und vielleicht sogar einen alternativen Einstieg in ihr Werk.
zum Produkt € 20,00*
Im Jahr 1901 beschloss eine junge Frau aus einer Bergbaustadt in Montana, dass sie nur eine Möglichkeit habe, um der beengten Atmosphäre ihrer Umgebung, in der sie sich unverstanden und einsam fühlte, zu entfliehen: sie musste ein Buch schreiben und damit berühmt werden. Also setzte sich die 19jährige Mary MacLane an den Schreibtisch und verfasste innerhalb von drei Monaten ein Manuskript, das kurze Zeit später tatsächlich zur literarischen Sensation werden und sie zum großen Star machen würde. Jetzt ist das Buch nach über 100 Jahren erstmals auch auf Deutsch erschienen - in einer Übersetzung von Ann Cotten.
MacLane erklärt sich in diesem Buch selbstbewusst zum Genie und nimmt keinerlei Rücksicht auf die Befindlichkeiten ihrer Leser*innen. Zu einer Zeit, in der jungen Mädchen von der Gesellschaft keine Ambitionen, keine
Sinnlichkeit und schon gar keine selbstbestimmte Sexualität zugestanden werden, berichtet sie offen von ihrer Faszination für ihren eigenen Körper, schildert freimütig ihre Liebe zu und ihr sexuelles Verlangen nach einer ehemaligen Lehrerin, verschweigt ihre Abneigung gegenüber dem Konzept der heterosexuellen Ehe genauso wenig wie ihr angebliches Hobby des gelegentlichen Diebstahls. Und immer wieder bringt Mary MacLane den Teufel ins Spiel, nach dem sie sich als einem Befreier sehnt, der sie aus der intellektuellen Beschränktheit von Butte und aus der für sie vorgesehenen gesellschaftlichen Rolle retten, aber ihr auch ihre geheimsten sexuellen Wünsche erfüllen soll.
Das Buch sorgte bei seiner Erstveröffentlichung für einen großen Skandal, Kritiker*innen und Moralapostel waren entsetzt, junge Mädchen traten scharenweise Mary MacLane-Gesellschaften bei. Auch wenn uns heutzutage Mary MacLanes schonungslose Offenheit weitaus weniger erschüttert als die damaligen Leser*innen, bleibt dieses selbsterklärte Genie aus Montana dennoch eine unglaublich faszinierende Person und die lyrische Sprache, mit der sie ihren Wunsch nach einem Ausbruch aus der intellektuellen Ödnis und Einsamkeit schildert, reißt uns heute kein bisschen weniger mit als damals.
zum Produkt € 18,00*
Byongsu Kim, ein pensionierter Tierarzt, verbringt seine Zeit damit Klassiker zu lesen und Gedichte zu schreiben. Allerdings ist er nicht nur pensionierter Tierarzt, sondern auch „pensionierter“ Serienmörder. Die Morde sind inzwischen alle verjährt, der letzte ist mehr als 25 Jahre her.
Byongsu Kim wohnt mit seiner Tochter in einem beschaulichen Dorf, in dem nun erneut ein Serienmörder sein Unwesen treibt und junge Frauen tötet. Durch Zufall trifft Byongsu Kim auf einen Mann, bei dem er dieselbe Mordlust erkennt, die auch ihn damals antrieb. Sofort wird ihm klar, dass er seine Tochter schützen und folglich einen letzten Mord planen muss. Doch das ist gar nicht so einfach. Byongsu Kim leidet an einer beginnenden Demenz, in die er immer weiter hineintaumelt.
Tragisch-komisch schildert Young-Ha Kim, wie Byongsu Kim mit Notizen und Voicerecorder gegen die Vergesslichkeit ankämpft und es ihm doch nicht gelingt. Das passiert so geschickt und geht soweit, dass ich am Ende des Buches selbst nicht mehr wusste, ob nun Byongsu Kims Version der Geschichte oder doch die der ermittelnden Polizei stimmt.
Aus dem Koreanischen von Inwon Park.
zum Produkt € 20,00*
"Ich ahnte überall Glitches, das geht zurück auf meine Mutter.
Ein Misstrauen gegenüber dem Wirklichen, eine parawissenschaftliche Wachheit bezüglich der Instabilität. Ich wurde von Immersionen gemartert und meine eigene Existenz war eine entsetzliche Mühsal.
Deshalb rauchte ich so viel Marihuana. Es entspannte mich und gleichzeitig kam ich mir vor, als würde ich schlafwandeln. Das war erträglicher als meine innere Gefangenschaft, als das klarsichtige Ausgesetztsein in der Trap, umgeben von Außerirdischen und meiner Niedergeschlagenheit. Trotzdem kam ich nicht runter und war nervös und glaubte, mein Herz sei kurz davor, zu explodieren. Ich redete mit ihm und murmelte Beschwörungsformeln. Um meinen Hals hingen zwielichtige Amulette."
In diesem schmalen, atmosphärischen Roman lässt Joshua Groß die digitale und reale Welt ineinanderfließen, bis sie sich kaum noch voneinander trennen lassen. Dieser Prozess geht angenehm unaufgeregt voran und fühlt sich beim Lesen, vor allem für digital natives, fast natürlich an.
Seinen gleichnamigen Protagonisten hat der Autor in einem kleinen Appartement in Miami platziert. Versorgt wird dieser von der Rhoxus Foundation, die ihn via Drohne mit Bargeld und Astronautennahrung beliefert und ihm automatisch seinen sprechenden Kühlschrank füllt. Im Gegenzug wird er von ihnen überwacht.
In diesem Zustand der einsetzenden Paranoia und geistiger Umnachtung lernt er die Meeresbiologin Charlotte kennen und beginnt mit ihr eine fragwürdige Romanze. Sie begegnen sich sowohl in der echten(?) Welt, als auch in der digitalen Welt von Cloud Control, einem Computerspiel, das nach und nach einen größeren Stellenwert in Joshuas Leben einnimmt. Als Charlotte schwanger wird, lernt Joshua den überdrehten Rapper Jellyfish P kennen, der, neben ihm, als möglicher Vater des ungeborenen Kindes in Frage kommt.
Gemeinsam gehen die beiden Ungereimtheiten nach, die vermehrt in Cloud Control auftreten und verlieren sich in einem wabernden Zerrbild.
Die zurechnungsfähigste Figur in diesem Roman ist zweifelsfrei der Kühlschrank.
Ich mag's!
zum Produkt € 20,00*
Christoph Heubner, der Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees hat unter dem Titel „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“ drei Erzählungen veröffentlicht, die von dem handeln, was für uns so schwer fassbar ist - und was wir doch nie vergessen dürfen.
Gleich in der ersten Erzählung über die Auschwitz-Überlebende Ungarin Magda Bermann schlägt er die Brücke zu aktuellem Antisemitismus, als sie 2018 in Pittsburgh knapp dem Anschlag auf die dortige Synagoge entgeht.
Wie viele (ungelesene?) Berichte von Zeitzeug*innen und literarische Aufarbeitungen des Holocaust gibt es wohl in unseren Regalen? Das muss die erste Quelle sein. Diesen Geschichten sind wir verpflichtet.
Aber darüber hinaus müssen auch die Nachfolgenden ihren Weg finden, das Erinnern wach zu halten.
Christoph Heubner, der mit vielen Überlebenden des Nationalsozialismus gesprochen hat, ist das literarisch beeindruckend und respektvoll gelungen.
zum Produkt € 14,80*
„Was wir sind“ von Anna Hope (aus dem Englischen übersetzt von Eva Bonné) erzählt die Geschichte der Freundschaft zwischen Cate, Hannah und Lissa.
Es erzählt von den Möglichkeiten, die mit Anfang zwanzig noch unendlich scheinen, als die drei in einer Londoner WG leben und zieht sich über Kunst, Karriere und Kinder durch die Jahre der Entwicklung, der Erkenntnis und oft auch der Enttäuschung, wenn in den Vierzigern Weichen gestellt und Entscheidungen getroffen sind, die dieses Allesistnochmöglichgefühl langsam dämmernd oder schneidend schnell widerlegen.
Doch das, was stattdessen in den drei so unterschiedlichen Frauen gewachsen ist, deren Freundschaft zu keinem Moment als linear oder statisch beschrieben wird, habe ich lesend liebend gern beobachtet.
zum Produkt € 22,00*
„Ich habe die Fähigkeit, binnen weniger Minuten einem Menschen zu verfallen, aber nicht wegen dieser Schwäche, sondern aus grundsätzlicheren Bedenken hatte man mich zunächst nicht fahren lassen, mir diesen Job nicht anvertrauen wollen, für den man im Auto eine Augenbinde umgebunden bekam, weil niemand, auch nicht die Vereinten Nationen, wissen durfte, wo die Treffen stattfanden, wo die Rebellen sich aufhielten, wo die Strippenzieher zu Abend aßen. Solche Jobs waren meinen männlichen Kollegen vorbehalten, doch ich hatte nicht akzeptieren wollen, dass nur Männer die Heldengeschichten erzählen dürften, die nichts mit Heldentum zu tun hatten, nur mit der Fähigkeit, nicht gleich in Panik zu geraten, und von der Dialektik der Grausamkeit zu hören, mit Milizionären auf der Ladefläche eines Ford Ranger zu lachen, mit einem Mörder am Grill zu stehen ...“
Ich habe mit anfänglicher Skepsis (weil ich keine Freundin von Menasses „Hauptstadt“ war) „Schutzzone“ von Nora Bossong gelesen (in dem es zwar nicht um die EU und Brüssel, wohl aber um die UN und Genf geht) und bin diesem Buch binnen weniger Seiten verfallen.
So melancholisch, so sprachgewandt, so rätselhaft, so vielschichtig beschreibt Nora Bossong durch die Stimme ihrer Protagonistin Mira die große, unfassbare Weltpolitik und die große, noch schwerer zu fassende Liebe.
zum Produkt € 24,00*