Ich liebe an diesem Roman, dass er so ein Überraschungskiste ist.
Auf den ersten Blick erzählt Judith Poznan von einer jungen Mutter:
Ihr Freund ist noch nicht wirklich von ihrem Wunsch nach einem zweiten Kind überzeugt, schließlich ging schon beim ersten mal alles ganz schön schnell. Für die glückliche Kindheit des Sohnes, aber auch zur eigenen Seelenhygiene nach dieser gefühlten Absage, soll dann aber dann wenigstens ein Wohnwagen her, denn auch die Erzählerin hat ihre Kindersommer auf dem Campingplatz verbracht.
Die skurrilen, witzigen Beobachtungen führen folgerichtig zu einem soghaften Lesevergnügen.
Judith Poznan beschreibt in all dem aber auch beeinduckend intensiv: Mutterschaft und Frausein, Herkunft und Klasse und eine Liebesgeschichte, wie ich sie immer lesen wollte!
Ich liebe einfach alles an dem Buch!
zum Produkt € 20,00*
Dieses Buch ist ein sprachgewordener Orkan!
Aber klüger!
Es fegt eine etwaige (Literatur-)Müdigkeit ebenso hinfort, wie falsche Moral. Es fährt durch unsere verklemmte deutsche Seele, unsere heuchlerische Erinnerungskultur und hinterlässt uns fassunglos darüber, dass sich jemand DAS überhaupt zu schreiben getraut hat.
Ein Wunder, wie treffsicher schneidend, bissig und voller Furor Milena Adam diesen 120 Seiten langen, atemlosen Monolog übersetzt hat.
zum Produkt € 20,00*
Dieses neue Lieblingsbuch ist eigentlich drei:
Es ist soghaft, es ist wunderbar düster und es ist stellenweise absurd witzig.
Ich habe lange kein Buch mehr so rauschhaft durchgelesen, aber die Protagonistinnen von Evie Wyld haben mich völlig in ihren Bann gezogen.
Im Schatten des Bass Rock, an der sturmumtosten Küste Schottlands, machen drei sehr verschiedene Frauen ähnliche Erfahrungen.
Zu unterschiedlichen Epochen erleben sie, was es bedeutet, wütenden Männern ausgeliefert zu sein:
Sarah wird als Hexe verrufen durch den Wald gejagt - oder?
Ruth ist frisch verheiratet und zieht kurz nach dem 2. Weltkrieg mit ihrem Mann und ihren Stiefsöhnen in ein zugiges Anwesen direkt am Strand.
Und Viv ist in der Gegenwart mit fast 40 Jahren immer noch nicht bereit, ihr Singleleben zu beenden, besonders angesichts der Alternativen.
Die Verbindung zwischen diesen drei Figuren zu entschlüsseln, ist reines Lesevergnügen. Die Botschaft dieses Buches ist drastisch, die Art, wie sie erzählt wird aber elegant, schauderhaft-schön und sehr besonders.
zum Produkt € 22,00*
In "LoveStar" spinnt der Autor Andri Snaer Magnason eine Zukunftsvision um ein Liebespaar, die ebenso befremdlich, wie vorstellbar scheint. Die Gesellschaft entkoppelt sich mithilfe eines Großkonzerns von Kabeln und Geräten. Informationen können über sogenannte Vogelwellen direkt in das Bewusstsein der Menschheit übertragen werden. Genutzt wird dieses Konzept vor allem für personalisierte Werbeangebote und lückenlose Überwachung.
LoveStar, der Vorstand seiner gleichnamigen Firma, verwirklicht fieberhaft seine größenwahnsinnigen Projekte, bis der Konzern mit den Tochterfirmen LoveDeath (ein teurer Bestattungsservice, der den neuen Standard darstellt) und inLove (ein Dienst, der jeder einzelnen Person auf der Welt eine*n ideale*n Partner*in zurechnet) in jede Lebensrealität vorgedrungen ist.
Zwei, die sich gegen das unfreiwillige Berechnetwerden wehren, sind SigrÍður und Indriði. Beide sind davon überzeugt, dass ihre Verbindung wahrhaftig ist, auch wenn inLove sie nicht einander zugeordnet hat und sie beginnen eine Reise gegen alle Widerstände der Wirklichkeit.
Ursprünglich hat dieser Titel 2002 in Island das Licht der Welt erblickt und liegt nun seit Oktober 2020 bei Eichborn in der Übersetzung von Tina Flecken vor.
Freund*innen von skurriler, dystopischer Literatur sollten hier beherzt zugreifen.
zum Produkt € 14,00*
Lange bevor die mir liebsten Autorinnen autofiktional geschrieben haben (Annie Ernaux, Deborah Levy, Rachel Cusk etc.) hat schon die Dänin Tove Ditlevsen (1917- 1976) ihr eigenes Leben, Erleben und vor allem Schreiben zu großer Literatur gemacht.
Die Kopenhagentrilogie (Kindheit/Jugend/Abhängigkeit) liegt nun in der Übersetzung von Ursel Allensteins erstmals vollständig auf Deutsch vor.
Tove Ditlevsen schreibt über das Aufwachsen im Kopenhagener Arbeiterviertel der 20er, über Klasse und Millieu, über Liebe und Scheidung, über Mutterschaft und Abtreibung, Psychose und (Todessehn)Sucht, vor allem aber schreibt sie über das Schreiben und das Überstehen der unzähligen Widerstände, die Künstlerinnen begegnet sind und noch heute begegnen.
Es liegt auch an Ursel Allensteins großer Übersetzungskunst, dass die Klarheit von Ditlevsens Sprache erhalten bleibt und den Eindruck einer absoluten Frische vermittelt. Die Bände, die im Original zwischen 1967 und 1971 erschienen sind, wirken absolut zeitlos und entfalten ihre ganze Wucht gerade in der Reduziertheit mit der Ditlevsen schreibt.
Gerade in dem, was sie unerwähnt lässt, entstehen beim Lesen die intensivsten Bilder. (Als Beispiel ist der Satz: "Mein Vater schlug mich nie.")
Eine beeindruckende Autorin, deren Wiederentdeckung für mich ganz eindeutig die Wichtigste und Glücklichste in diesem Bücherjahr ist.
zum Produkt € 18,00*
„Was machst du, wenn deine Kinder Frauen werden? Wenn deine Kinder Töchter sind und Frauen werden, was machst du dann?“
In diesem Roman begleiten wir die drei Freundinnen Svenja, Olga und die namenlose Ich-Erzählerin beim Erwachsenwerden. In kurzen Momentaufnahmen beschreibt Esther Becker, welchem Druck, welchen Erwartungen und Einflüssen von Außen, vor allem an ihre Körper, die Mädchen und jungen Frauen ausgesetzt sind. Wie kann es gelingen, sich von anderen abzugrenzen und gleichzeitig dem Bedürfnis nachzukommen dazuzugehören und mit den Erwartungen umzugehen? Unaufgeregt, ehrlich und mit Humor werden Szenen beschrieben, bei denen es vor allem um Körperlichkeiten geht. Es geht aber auch um das Sich-finden, genauso wie das Verlorensein und Sich-nicht-finden-können der Protagonistinnen.
„Wie die Gorillas“ hat einen großen Sog auf mich ausgeübt, mich zum Reflektieren angeregt und wird noch lange nachhallen.
zum Produkt € 19,00*
Wie lange habe ich auf solch ein Kinderbuch gewartet!
Endlich gibt es ein Bilder-Sachbuch über unser Sonnensystem zum Vorlesen und Staunen für die Kleinen ab 4 Jahre!
Die kleine Erde fühlt sich im Gegensatz zu all den anderen Planeten winzig und langweilig und erzählt spannende, kurze Fakten über jeden einzelnen ihrer kleinen Gruppe. Kindgerecht und unglaublich sympathisch lernen wir beim Lesen unser erstaunliches Sonnensystem und die Namen der Planeten kennen. Wer besucht den Mars regelmäßig? Wie lange braucht Neptun, um sich einmal um die Sonne zu drehen? Sogar einige Monde werden namentlich genannt! Und was macht eigentlich unser lieber Pluto...?
Noch nie wollte ich so dringend mit Jupiter befreundet sein, wie nach der Lektüre dieses wunderschönen, niedlichen Sachbuches!
zum Produkt € 15,00*
Im präkolonialen Kamerun gibt es eine Dorfgemeinschaft, die so abgeschieden lebt, dass sie bisher nur Kontakt zu ihrem unmittelbar benachbarten Volk hatte. Vom Hörensagen wissen die Mulongo zwar noch von der Existenz eines "Küstenvolks", das einige Tagesreisen entfernt leben soll, aber eigentlich können sie sich unter den Begriffen "Küste" oder "Ozean" gar nichts vorstellen - geschweige denn darunter, dass auch jenseits vom "Land des Wassers" (hellhäutige) Menschen leben sollen. Eines Nachts bricht in der Siedlung der bisher friedlich lebenden Mulongo ein verheerender Brand aus, der fast alle ihrer Hütten zerstört. Am nächsten Tag müssen sie bestürzt feststellen, dass 12 Männer aus ihrer Gemeinschaft, darunter ihr spiritueller Führer sowie zehn frisch initiierte junge Männer, spurlos verschwunden sind. Der Roman folgt nun den erschütterten und trauernden Hinterbliebenen, die versuchen, das absolut Unvorstellbare zu begreifen, das ohne Vorwarnung über ihre vertraute Welt hereingebrochen ist.
Léonora Mianos beeindruckender Roman schildert den Beginn des transatlantischen Sklav*innenhandels und der kolonialistischen Gewalt auf dem afrikanischen Kontinent aus der Sicht derer, deren Weltbilder, Lebensweisen und Glaubenssysteme durch die Grausamkeit des europäischen Kolonialismus irreparablen Schaden erlitten haben. Intensiv, schmerzhaft und dabei doch ungemein behutsam geschrieben!
zum Produkt € 14,00*
Annie Ernaux. Das ist für mich ein Synonym für literarische Relevanz.
Ich bin so dankbar, dass wir in den grandiosen Übersetzungen von Sonja Finck immer mehr von dieser brillanten Autorin lesen dürfen.
Bisher war ich in Fragen der Reihenfolge eher dogmatisch: Ernaux wird so gelesen, wie Finck sie übersetzt.
„Die Jahre“ zeigen das Gesamtbild. „Erinnerung eines Mädchens“ seziert unterm Mikroskop in einem ganzen Buch, was in „Die Jahre“ auf wenigen Zeilen wie nebenbei erwähnt wird. (Natürlich erwähnt Annie Ernaux niemals etwas nebenbei!)
In „Der Platz“ beleuchtet sie die Perspektive zum Vater.
„Eine Frau“ wirft ein Schlaglicht auf die Mutter. Doch immer ist Ernaux ihr eigenes Zentrum.
Jedes Buch von ihr verdichtet meinen Eindruck des vorherigen, lässt Verbindungen entstehen.
Das Ernauxversum gewährt mir mit jedem Buch ein tieferes Verstehen seiner Beschaffenheit. Und zeigt mir genau, wo ich Teil davon bin, wo es Teil von mir ist - und von den Frauen um mich herum.
Nun ist „Die Scham“ erschienen und ich gerate mit meiner Überzeugung der Reihenfolge zum ersten Mal ins Wanken.
Vielleicht ist das eine Finck-Übersetzung, die sich auch als Einstieg in das Werk von Annie Ernaux eignet? In diesem Buch, das sie bereits Mitte der 90er schrieb, findet sie erstmals Worte für eine Begebenheit aus dem Jahr 1952: Am Küchentisch eskaliert ein elterlicher Streit und der Vater droht, die Mutter zu erschlagen.
Für Ernaux beginnt in diesem Jahr eine Zeit „ ... in der ich mich ununterbrochen schämen würde.“ Hier geht es im Zuge des Erwachsenwerdens der damals zwölfjährigen Annie D. vor allem um Religion und Milieu.
Die Ausgangsszene am Küchentisch bleibt der entscheidende Zündungsmoment, aber Ernaux geht gewohnt soziologisch weiter voran, arbeitet sich tiefer vor in die Entstehung ihrer Scham, die zwischen Privatschule und Katholizismus Nahrung fand.
Ernaux betrachtet sich und die damaligen Umstände völlig unaufgeregt, gewohnt ruhig und analytisch, und beeindruckt mich mal wieder tief in ihrer Ehrlichkeit und in ihrer Unbedingtheit: Es ist für sie ganz klar, dass sie diese Begebenheit in der literarischen Form erzählen, genaue Worte für sie finden muss, weil sonst diese Küchentischszene als ewig Heiliges, Unbenennbares und damit enorm Machtvolles in ihr bleibt. Als Stimmung, als Szene vor allem aber als ein Auslöser für ein Gefühl, das für so viele Frauen so viele verschiedene Anfänge hat.
Und das ist der Einstieg in den Dialog, den ich nach jedem Ernaux-Buch mit mir selbst führe: Hier beginnt das Erinnern, die Selbstermächtigung über eigene Gefühle und eigene Episoden, die Auseinandersetzung mit meiner Vergangenheit, das Michwichtignehmen, auch rückwirkend und auch in vermeintlichen Lapalien, das in protestantischen Haushalten ebenso als eher unerwünschtes Umsichselbstkreisen verpönt war. Das zu initiieren und zwar mit Sätzen und Bildern, die universell sind und hochliterarisch, das ist für mich bei jedem Buch von Annie Ernaux eine Offenbarung.
Ich kann „Die Scham“ nicht lesen, ohne die vier vorherigen Bücher mitzudenken und ich kann es nicht lesen, ohne mich auf weitere Ernaux-Übersetzungen von Sonja Finck zu freuen.
Aber falls Ihr, wie auch immer das möglich sein kann, noch nichts von Annie Ernaux gelesen habt, gibt es jetzt einen Grund mehr. Und vielleicht sogar einen alternativen Einstieg in ihr Werk.
zum Produkt € 20,00*
Im Jahr 1901 beschloss eine junge Frau aus einer Bergbaustadt in Montana, dass sie nur eine Möglichkeit habe, um der beengten Atmosphäre ihrer Umgebung, in der sie sich unverstanden und einsam fühlte, zu entfliehen: sie musste ein Buch schreiben und damit berühmt werden. Also setzte sich die 19jährige Mary MacLane an den Schreibtisch und verfasste innerhalb von drei Monaten ein Manuskript, das kurze Zeit später tatsächlich zur literarischen Sensation werden und sie zum großen Star machen würde. Jetzt ist das Buch nach über 100 Jahren erstmals auch auf Deutsch erschienen - in einer Übersetzung von Ann Cotten.
MacLane erklärt sich in diesem Buch selbstbewusst zum Genie und nimmt keinerlei Rücksicht auf die Befindlichkeiten ihrer Leser*innen. Zu einer Zeit, in der jungen Mädchen von der Gesellschaft keine Ambitionen, keine
Sinnlichkeit und schon gar keine selbstbestimmte Sexualität zugestanden werden, berichtet sie offen von ihrer Faszination für ihren eigenen Körper, schildert freimütig ihre Liebe zu und ihr sexuelles Verlangen nach einer ehemaligen Lehrerin, verschweigt ihre Abneigung gegenüber dem Konzept der heterosexuellen Ehe genauso wenig wie ihr angebliches Hobby des gelegentlichen Diebstahls. Und immer wieder bringt Mary MacLane den Teufel ins Spiel, nach dem sie sich als einem Befreier sehnt, der sie aus der intellektuellen Beschränktheit von Butte und aus der für sie vorgesehenen gesellschaftlichen Rolle retten, aber ihr auch ihre geheimsten sexuellen Wünsche erfüllen soll.
Das Buch sorgte bei seiner Erstveröffentlichung für einen großen Skandal, Kritiker*innen und Moralapostel waren entsetzt, junge Mädchen traten scharenweise Mary MacLane-Gesellschaften bei. Auch wenn uns heutzutage Mary MacLanes schonungslose Offenheit weitaus weniger erschüttert als die damaligen Leser*innen, bleibt dieses selbsterklärte Genie aus Montana dennoch eine unglaublich faszinierende Person und die lyrische Sprache, mit der sie ihren Wunsch nach einem Ausbruch aus der intellektuellen Ödnis und Einsamkeit schildert, reißt uns heute kein bisschen weniger mit als damals.
zum Produkt € 18,00*